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Ein gemeinsamer Verzicht auf die Durchführung einer Schlichtungsverhandlung ist lediglich bei einem Streitwert von über CHF 100’000.00 möglich. Dieser in Art. 199 Abs. 1 ZPO gesetzlich verankerte Grundsatz wurde jüngst vom Bundesgericht bestätigt (BGE 146 III 185).

 

Das Schlichtungsobligatorium von Art. 199 ZPO

Der Gesetzgeber hat in der Ausgestaltung des Schlichtungsverfahrens vorgesehen, dass ein solches grundsätzlich dem Zivilprozess vorangestellt wird und nur in gewissen Verfahren ausnahmsweise entfällt (vgl die in Art. 198 der Schweizerischen Zivilprozessordnung “ZPO” aufgeführten Verfahren). Ziel des Schlichtungsobligatoriums ist, eine hohe Quote an Streitigkeiten durch Vergleich zu erledigen und so nicht nur den Parteien langwierige Streitigkeiten zu ersparen, sondern auch die Gerichte zu entlasten. Bei der Entstehung der ZPO wurde die Frage, ob in vermögensrechtlichen Streitigkeiten auf das Schlichtungsverfahren verzichtet werden könne, in Fachkreisen unterschiedlich beurteilt. Der Vorentwurf der Expertenkommission sah noch vor, dass die Parteien in jedem Fall gemeinsam auf das Schlichtungsverfahren verzichten können sollten. Hintergrund war, dass ein Schlichtungsverfahren, welches keine der beiden Parteien wollte, verhindert werden sollte. Demgegenüber hielt der Bundesrat in seiner Botschaft fest, dass dieser Verzicht im Vernehmlassungsverfahren auf Kritik gestossen sei. Gerade im Bereich geringerer Streitwerte sei die Vergleichsquote erfahrungsgemäss am höchsten, weil der Druck der hohen Kosten und langwierigen Verfahren im Verhältnis zum Streitwert die Parteien oft dazu bewege, das Prozessieren im Klageverfahren zu vermeiden. Aus diesem Grund wurde in Art. 199 Abs. 1 ZPO festgelegt, dass die Parteien bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten erst bei einem Streitwert von mindestens CHF 100’000.00 gemeinsam auf die Durchführung des Schlichtungsverfahrens verzichten können.

 

BGE 146 III 185

Im vorliegend zu beurteilenden Fall hatte der Beklagte nach Einreichung des Schlichtungsgesuchs dem Friedensrichter mitgeteilt, dass er nicht an der Schlichtungsverhandlung teilnehmen werde. Daraufhin ersuchte der Kläger den Friedensrichter, ihn von der Schlichtungsverhandlung zu dispensieren und ihm die Klagebewilligung ohne Durchführung der Schlichtungsverhandlung auszustellen. Diesem Ersuchen kam der Friedensrichter nach, wobei er ausdrücklich festhielt, dass dem Kläger “ohne durchgeführte Schlichtungsverhandlung die Klagebewilligung erteilt” werde. Gestützt auf diese Klagebewilligung reichte der Kläger am Bezirksgericht Kulm Klage ein, wobei das Gericht mangels gültiger Klagebewilligung nicht auf die Klage eintrat. Sowohl die dagegen erhobene Berufung als auch die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht wurden abgewiesen.

 

Ungleichbehandlung der Prozessparteien

Das Bundesgericht hielt fest, die Parteien hätten beide zum Ausdruck gebracht, nicht an der Schlichtungsverhandlung teilnehmen zu wollen. Dies komme einem gemeinsamen Verzicht auf das Schlichtungsverfahren gleich. Ein solcher Verzicht sei aber bei Streitwerten unter CHF 100’000.00 gesetzlich ausgeschlossen. Daran ändere die teilweise in der Lehre vorgebrachte Ansicht nichts, wonach diese Strenge zulasten des Klägers gehe, der zur Fahrt zum Friedensrichter gezwungen werde, um dort die Klagebewilligung abzuholen, während der Beklagte “den freien Tag” geniesse. Das Nichterscheinen ha-be für die Parteien unterschiedliche Konsequenzen, weil bei Säumnis des Beklagten die Klagebewilligung ausgestellt werde, bei jener des Klägers hingegen das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben werde. Das Bundesgericht würdigte dieses Argument, hielt zugleich aber fest, der Gesetzgeber habe die Säumnisfolgen für die Prozessparteien bewusst ungleich geregelt.

 

Klagebewilligung als Prozessvoraussetzung

Ein weiteres Argument der Lehre, wonach die Teilnahme des Klägers nicht verlangt werden könne, wenn von vornherein feststehe, dass die Verhandlung nicht durchgeführt werde, wies das Bundesgericht ebenfalls zurück. So sei das Zivilprozessrecht öffentliches Recht und das Vorliegen der Klagebewilligung für die Einreichung der Klage eine Prozessvoraussetzung, welche von Amtes wegen zu prüfen sei. Es könne zudem nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass der Kläger im letzten Moment dennoch an der Schlichtungsverhandlung teilnehmen würde. Dies vor allem dann, wenn ihn die Schlichtungsbehörde nach seiner Erklärung, er werde nicht erscheinen, nochmals auf die Erscheinungspflicht hinweise. Die Partei sei entsprechend auch nicht bereits säumig, wenn sie erkläre, nicht an der Schlichtungsverhandlung teilzunehmen, sondern erst, wenn sie tatsächlich nicht zur Schlichtungsverhandlung erscheine.

 

Fazit

Das Bundesgericht hat mit seinem Urteil BGE 146 III 185 festgehalten, dass das Schlichtungsobligatorium für Fälle mit einem Streitwert unter CHF 100’000.00 uneingeschränkt Geltung hat. Erklärt die beklagte Partei, nicht an der Schlichtungsverhandlung teilzunehmen, hat die Schlichtungsbehörde am Termin festzuhalten und die Parteien erneut auf die Erscheinungspflicht aufmerksam zu machen. Den Kläger darf sie nicht von der Verhandlung dispensieren. Dieser hat auf jeden Fall zu erscheinen, sei es schon nur, um die Klagebewilligung abzuholen. Tut er dies nicht, wird das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben.

Adrien Jaccottet

Adrien Jaccottet

Advokat und Mediator