Veränderungen und Herausforderungen seit der Aktienrechtsrevision vom 1. Januar 2023
I. Einleitung
Die Revision des Aktienrechts trat am 1. Januar 2023 in Kraft und führte zahlreiche Neuerungen ein. Diese wirkten sich nicht zuletzt auch auf die Rolle des Verwaltungsrats aus. Zwei Jahre später darf man sich die Frage stellen, wie sich der Alltag des Verwaltungsrats unter dem revidierten Aktienrecht verändert hat. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, die relevanten Änderungen für den Verwaltungsrat in Erinnerung zu rufen und ausgewählte Aspekte einer kritischen Würdigung zu unterziehen.
II. Überblick über das seit dem 1. Januar 2023 geltende Recht
Für Gesellschaften, deren Aktien an einer Börse kotiert sind, sind die Regeln der bisherigen Verordnung gegen übermässige Vergütungen (VegüV) in das Obligationenrecht eingefügt worden. Dazu gehören unter anderem die einjährige Amtsdauer der Mitglieder des Verwaltungsrats und deren zwingende Einzelwahl (Art. 710 OR), die Wahl des Verwaltungsratspräsidenten durch die Generalversammlung (Art. 712 OR) sowie die detaillierten Regelungen über die Vergütung des Verwaltungsrats (Art. 732 ff. OR). Bereits zwei Jahre zuvor, am 1. Januar 2021, sind die Vorgaben zur Geschlechtervertretung im Verwaltungsrat und in der Geschäftsleitung (Art. 734f OR) in Kraft getreten.
Seit dem 1. Januar 2023 gelten sodann folgende Anpassungen für sämtliche Aktiengesellschaften, also auch für diejenigen, deren Aktien nicht an einer Börse kotiert sind: Zunächst ist von Bedeutung, dass die Delegation der Geschäftsführung gemäss Art. 716b OR mittlerweile auch ohne statutarische Grundlage zulässig ist. Weiter ermöglicht Art. 713 OR eine flexible Gestaltung der Sitzungs- und Beschlussformen des Verwaltungsrats. Der Umgang mit Interessenkonflikten ist geregelt worden (Art. 717a OR). Weiter sind die Pflichten des Verwaltungsrats bei drohender Zahlungsunfähigkeit, Kapitalverlust und Überschuldung angepasst worden (Art. 725 ff. OR).
III. Würdigung ausgewählter Aspekte
1. Geschlechterquoten
Für börsenkotierte Aktiengesellschaften, die eine bestimmte kritische Grösse aufweisen, enthält das Obligationenrecht seit dem 1. Januar 2021 Vorgaben zur Vertretung beider Geschlechter im Verwaltungsrat (zu mindestens 30%) und in der Geschäftsleitung (zu mindestens 20%). Für die Umsetzung dieser Geschlechterquoten gilt eine Übergangsfrist bis Ende 2025 (im Verwaltungsrat) resp. bis Ende 2030 (in der Geschäftsleitung). Aktuell liegt der Frauenanteil in den Verwaltungsräten börsenkotierter Unternehmen in der Schweiz bei 25% und in den Geschäftsleitungen bei 15%. Bei den SMI-Unternehmen beträgt der durchschnittliche Frauenanteil in Verwaltungsräten bereits über 30%.
2. Sitzungen und Beschlussfassung
Art. 713 Abs. 2 OR brachte eine Flexibilisierung hinsichtlich der Sitzungs- und Beschlussformen. Drei Arten von Verwaltungsratssitzungen sind unter dem neuen Aktienrecht möglich: Entweder sind alle Verwaltungsratsmitglieder am Tagungsort anwesend oder aber nur der Vorsitzende samt Protokollführer (physische Sitzung). Schalten sich einzelne Mitglieder telefonisch oder per Video zu, spricht man von hybrider Sitzung. Möglich ist weiter, dass sich alle Verwaltungsratsmitglieder mit elektronischen Mitteln zusammenschliessen (virtuelle Sitzung). Für die Durchführung von virtuellen Sitzungen gelten dieselben Regelungen wie für die Generalversammlung (vgl. Art. 701c ff. OR). Ein Verwaltungsratsbeschluss kann in einer Sitzung oder auf dem Zirkularweg gefasst werden. Zirkularbeschlüsse können auf schriftlichem oder elektronischem Weg erfolgen. Eine Zustimmung per E-Mail oder Chat genügt den gesetzlichen Anforderungen.
Die Flexibilisierung von Sitzungen und Beschlüssen hat erhebliche Risiken mit sich gebracht. Unter Umständen kann die Sicherstellung, dass sich die einzelnen Verwaltungsratsmitglieder ausreichend an der Diskussion beteiligen können, schwierig sein. Es empfiehlt sich, die Verwendung elektronischer Mittel für die Sitzungsteilnahme oder für Zirkularbeschlüsse im Organisationsreglement genauer zu regeln. Dabei soll insbesondere festgelegt werden, welche technischen Voraussetzungen für die unmittelbare Übertragung der Voten bzw. für die Antragstellung erforderlich sind.
Die fehlende persönliche Anwesenheit kann unter Umständen dazu führen, dass ein unmittelbarer Meinungsaustausch sowohl vor als auch nach den Sitzungen nicht stattfinden kann. Besonders im Hinblick auf die Konsensfindung bei schwierigen Traktanden kann dies heikel sein, da der fehlende Informationsaustausch möglicherweise dazu führt, dass die Verwaltungsratsmitglieder ihre persönliche Sorgfaltspflicht nicht in vollem Masse wahrnehmen können.
Aus der Bereitstellung und Abrufbarkeit der Dokumentation des Verwaltungsrats in elektronischer Form ergeben sich zunehmend besondere technische Anforderungen, mit denen datenschutzrechtliche Fragestellungen einhergehen. Im Organisationsreglement soll deshalb die Vertraulichkeit, der Datenschutz und die regelmässige Anpassung der Sicherheitsstandards an die technischen Entwicklungen sichergestellt werden.
Die zwingende Protokollpflicht erfüllt bei flexiblen Sitzung- und Beschlussformen eine sehr wichtige Beweisfunktion. Zirkulationsbeschlüsse sind an der nachfolgenden Sitzung zu protokollieren. Die für die Entstehung der Beschlüsse erforderlichen Informationen und Voten sind aufzubewahren.
3. Vorgehen bei Interessenkonflikten
Seit dem 1. Januar 2023 haben die Mitglieder des Verwaltungsrats diesen unverzüglich über sie betreffende Interessenkonflikte zu informieren, woraufhin der Verwaltungsrat die zur Wahrung der Interessen der Gesellschaft notwendigen Massnahmen ergreift (Art. 717a OR). Der Gesetzgeber hat auf eine allgemeine Definition des Begriffs «Interessenskonflikt» verzichtet. Nach gängigem Verständnis liegt ein Interessenskonflikt vor, wenn ein Verwaltungsratsmitglied eine Entscheidung zu treffen hat, bei welcher die Gesellschaftsinteressen mit eigenen Interessen oder mit Interessen von dem betreffenden Verwaltungsratsmitglied nahestehenden Personen oder Gesellschaften kollidieren. Gemäss Art. 717a Abs. 2 OR kommt dem Verwaltungsratsgremium ein erhebliches Ermessen zu, wenn es darum geht, die geeignete Massnahme zu ergreifen, damit sich der Interessenkonflikt nicht zum Nachteil der Gesellschaft auswirkt. Da das Unterlassen einer Meldung des Interessenskonflikts eine Haftung des einzelnen Verwaltungsratsmitglieds nach sich ziehen kann, soll das Instrumentarium für den Umgang mit Interessenskonflikten im Organisationsreglement festgelegt werden. Dem betroffenen Verwaltungsrat kann es im Hinblick auf die Offenlegung des Interessenkonflikts helfen, wenn er weiss, wann er ein potenzieller Konflikt melden muss, ob er von Informationen oder Stimmabgabe ausgeschlossen wird oder ob eine Fairness Opinion eingeholt werden muss.
4. Pflichten in Sanierungssituationen
Mit der Aktienrechtsrevision vom 1. Januar 2023 wurden die Pflichten des Verwaltungsrats zur Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft angepasst.
Der Verwaltungsrat muss nach wie vor dafür sorgen, dass die Gesellschaft jederzeit in der Lage ist, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Über die Art und den Umfang der laufenden Überwachung der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft werden dem Verwaltungsrat keine starren Vorgaben gemacht. Der Umfang der Überwachungspflicht hängt von der Art, Grösse und Struktur des Unternehmens ab und steigt an, wenn sich die Anzeichen für eine Krise verdichten. Die Erstellung und die Führung eines Liquiditätsplans, welcher den erwarteten Liquiditätsbedarf sowie die Zuflüsse und Abflüsse laufend abbildet, ist ab einer gewissen Komplexität des Geschäftes unumgänglich. Als Faustregel gilt, dass die Liquiditätsplanung quartalsweise überprüft werden soll und in Krisenzeiten laufend zu monitorieren ist.
Die Aktienrechtsrevision hat die Vorgaben zum Vorgehen im Fall von Kapitalverlust leicht modifiziert. Ein Kapitalverlust liegt vor, wenn die Aktiven abzüglich der Verbindlichkeiten die Hälfte der Summe aus Aktienkapital, nicht an die Aktionäre zurückzahlbarer gesetzlicher Kapitalreserve und gesetzlicher Gewinnreserve nicht mehr decken (Art. 725a Abs. 1 OR). Bei Vorliegen eines Kapitalverlusts muss nicht mehr in jedem Fall eine ausserordentliche Generalversammlung einberufen werden, sondern nur noch dann, wenn eine zu ergreifende Massnahme in die Zuständigkeit der Generalversammlung fällt. Die Erstellung einer Zwischenbilanz ist nicht gesetzlich vorgeschrieben, empfiehlt sich aber, wenn der kritische Zustand keine vorübergehende Phase ist. Sofern die Gesellschaft aufgrund eines Opting-Outs über keine Revisionsstelle verfügt, hat der Verwaltungsrat einen Revisor zu ernennen, der die letzte Jahresrechnung eingeschränkt überprüft. Im Falle eines Unterlassens ist der Beschluss über die Genehmigung der Jahresrechnung bzw. über eine anschliessende Dividendenausschüttung nichtig
Art. 725b OR regelt den Tatbestand der Überschuldung. Eine Gesellschaft ist überschuldet, wenn ihre Verbindlichkeiten nicht mehr vollständig durch die Aktiven gedeckt sind. Der Verwaltungsrat muss unverzüglich einen Zwischenabschluss zu Fortführungs- und einen Zwischenabschluss zu Veräusserungswerten erstellen lassen. Bei Abwesenheit einer Revisionsstelle (Opting-Out) ist ad hoc ein zugelassener Revisor zu ernennen.
Der Verwaltungsrat kann im Falle begründeter Überschuldungsbesorgnis auf einen Zwischenabschluss zu Fortführungswerten verzichten, wenn die Annahme der Fortführung nicht gegeben ist. Im Zusammenhang mit der Pflicht, den Konkursrichter zu benachrichtigen (sog. Bilanzdeponierung), sieht das Gesetz nun ausdrücklich vor, dass auch die Möglichkeit eines Gesuchs um Nachlassstundung besteht.
IV. Fazit
Für den Alltag des Verwaltungsrats kann zwei Jahre nach Inkrafttreten der Aktienrechtsrevision in drei Hauptpunkten ein erstes Fazit gezogen werden:
- Was die Geschlechterquoten im Verwaltungsrat und in der Geschäftsleitung angeht, besteht für die betroffenen schweizerischen Unternehmen bis zum Ablauf der ersten Übergangsfrist Ende 2025 noch Handlungsbedarf.
- Die Flexibilisierung der Sitzungs- und Beschlussformen ist zu begrüssen, erhöht aber die Risiken einer rekonstruierbaren Beschlussfassung. Es empfiehlt sich, das Organisationsreglement durchzukämmen, um von den Neuerungen Gebrauch machen zu können, ohne die Gefahr einer unklaren Beschlussfassung einzugehen. Bei dieser Gelegenheit sollte auch der Umgang mit Interessenkonflikten im Organisationsreglement geregelt werden.
- Bei einer finanziellen Schieflage der Gesellschaft hat der Gesetzgeber einen neuen Akzent auf die drohende Zahlungsunfähigkeit gelegt. Ein besonderes Augenmerk ist weiterhin auf die Prüfpflicht bei Vorliegen eines Kapitalverlusts zu legen. Schliesslich hat die leicht modifizierte Bestimmung zur Überschuldung im Verwaltungsrat das Bewusstsein für ein Handeln mit gebotener Eile geschärft.
Wir beraten Sie gerne zu erforderlichen und geeigneten Massnahmen im Zusammenhang mit der Organisation Ihrer Gesellschaft und ihres Verwaltungsrates.